Elektromusik A-U-T-O-B-A-H-N der Besten: Das "SYNTHESIZERSTUDIO BONN" feat. Dirk Matten und Hajo Wiechers

Zwei Thesen, wie die internationale Musikszene ohne Dirk Matten und Hajo Wiechers aussehen würde:

1. These: Klaus Schulze (Foto links) arbeitete bis Anfang 1975 noch ohne Sequencer. Dem Schlagzeuger in Schulze fehlte der strukturierte Synthesizer-Rhythmus, dem Menschen in ihm das Geld um sich den damals noch weitgehend konkurrenzlosen Moog Sequencer anschaffen zu können, denn der im EMS Synthi AKS enthaltene digitale Sequencer hatte sich als zu wenig praktikabel für Schulzes Musik erwiesen. Die aktuelle Schulze-Platte damals hieß "Picture Music", deren erste Seite "Totem". Schulze versuchte hierauf mit einem ARP 2600 Synthesizer und dessen Zufallsgenerator seiner Musik rhythmische Muster zu geben.

Schulze ging im Februar 1974 auf die Musikmesse nach Frankfurt und suchte dort nach einer Lösung. Auftritt Dirk Matten im (Dritte-Person-)O-Ton: "Auf der Musikmesse trafen die beiden Herren Matten und Wiechers Klaus Schulze, den bekannten deutschen Synthesizermusiker. Dirk sprach ihn an, ob er an einem Sequencer interessiert sei, und Schulze war sofort Feuer und Flamme. 'Wieviel?'und 'Die Kohle kannst Du sofort haben' so Schulze. Nach Monaten der Löterei auf dem Küchentisch von Hajos Mutter funktionierte der erste Sequencer und wurde noch halbfertig - die Rückwand war nicht einmal festgeschraubt, das Holzgehäuse nicht lackiert
- in Dirks VW Käfer gepackt und nach Berlin transportiert. Klaus war begeistert, den ersten Synthanorma Sequencer (= Foto rechts / zum Vergrößern bitte auf das Foto klicken) zu besitzen."

Der Rest ist Legende. Die nächste Schulze-Platte "Timewind", dieses Mal mit Sequencer, wurde für Klaus Schulze ein großer künstlerischer Erfolg (u. a. mit dem Deutschen Schallplattenpreis ausgezeichnet und dem französischen "Grand Prix International“); die auf dem Plattencover vermerkte Telefonnummer von Dirk Matten brachte den beiden schnell weitere Interessenten.

Klaus Schulzes Ruhm gründete sich also u. a. auf der Tatsache, dass er den Synthanorma Sequencer einsetzen konnte. Fünf Jahre später gab er über sein Independant-Plattenlabel IC der Band "Ideal" einen Plattenvertrag und hievte so eine Musikerin namens Annette Humpe in die Welt der Musikerfolge. - DIES WÄRE OHNE MATTEN & WIECHERS SO NICHT GESCHEHEN.

2. These: Kraftwerk waren einmal eine Musikgruppe, die vom Einsatz von Musiksequencer-Maschinen nicht überzeugt war und einen Mini Moog als einzig und alleinigen Synthesizer hatte. Heute kaum vorzustellen, aber genau so war das im Sommer 1975 kurz nach dem M&W Deal mit dem Synthanorma für Klaus Schulze

Damals besuchte Dirk Matten, in seiner Funktion als "fliegender Händler" für ARP und EMS Synthesizer, Florian Schneider von Kraftwerk und es entwickelte sich zwischen beiden ein freundschaftliches Verhältnis. Auch Ralf Hütter lernte er kennen und oft diskutierte man über Synthesizertechnik. Matten schwärmte stets vom Synthanorma, doch Florian Schneider und auch Ralf Hütter (Foto rechts) lehnten ab. "Ich bin ein menschlicher Sequenzer", soll Hütter gesagt haben, der dies u. a. in den Titeln "Tanzmusik" oder "Kometenmelodie" hinreichend bewiesen hatte. O-Ton-Matten: "Gegenargument: Der Generaldirektor einer Firma arbeitet ja auch nicht selber am Fließband, oder anders: Glaubst Du, daß Herr Thyssen die Thomasbirne etwa selbst ansticht?"

Es folgten Diskussionen zur "Conductor-Philosophy" von Kraftwerk. [Vereinfacht beschrieben ist die "C.-Ph." eine Grundeinstellung von Komponisten gegenüber elektronischen Speicher- und Steuereinheiten. Diese Grundhaltung wird von ihnen nicht wie das Verhältnis Spieler-Instrument, sondern eher als Beziehung Dirigent (engl. conductor) -Orchester verstanden: Denn Hybride Systeme können Funktionen der Speicherung ("Partitur"), deren spätere Beeinflussung ("Interpretation") und wiederum deren Speicherung ("Reproduktion") ausführen, während der Dirigent/Musiker diese nur steuert.] Vielleicht konnte Dirk Matten Herrn Hütter ja aufzeigen, wieviel klangverändernde Kreativität einem Musiker gegeben wird, wenn er eine Melodie nicht selbst spielen muss sondern statt dessen die Freiheit hat, mit und am Klang zu arbeiten (siehe beispelhaft beim KW-Titel "Spiegelsaal"). Jedenfalls sagt Florian Schneider heute: "Herr Matten hat uns vom Sequenzer-Konzept überzeugt" und schon die folgende Kraftwerk-Platte begann mit einem Synthanorma Titel und zwar mit "Europa Endlos".

Ohne Synthanorma Sequencer-Komponenten wäre das 1976 aufgenommende Album "Trans Europa Express" nicht so geworden, wie man es kennt und hätte sicher nicht die amerikanische Hip-Hop-Musik derart beeinflusst, dass man heute noch vom Kraftwerk-Rhythmus schwärmt. Dass neben Conny Plank kurz danach auch Kraftwerk einen ARP Odyssey in ihrer Musik einsetzten (= eines der Hauptinstrumente auf "Mensch Maschine") sei nur nebenbei erwähnt. - Kurzum: AUCH DIES WÄRE SO OHNE M&W NICHT GESCHEHEN.

Soweit die zwei Thesen.

"Lonely? Just call Dirki..." stand auf einer der Annoncen des Synthesizerstudios Bonn, die in den 1980er- und 1990er-Jahren ebenso Kult waren wie das Studio selbst und die zwei Kerle,
die es betrieben. Angesiedelt in der "Kölnstraße" (kurz danach in der "Franzstraße" und später "Auf der Kaiserfuhr") war das SSB bis kurz vor der Jahrtausendwende "die" Adresse für alle Synthesizernteressierten Deutschlands. Als Moderator der "Sounds vom Synthesizer" kam ich viel in Kontakt mit Elektromusikern und nahezu alle hatten da schon etwas in Bonn oder aus Bonn gekauft.

Synthesizerenthusiast Matten und Technikingenieur Wiechers eröffneten das Synthesizerstudio in der damaligen Bundeshauptstadt vor genau fünfunddreißig Jahren, nachdem Matten bereits am 3. September 1971 einen ersten eigenen Laden aufgemacht hatte, und es war in seiner Art damals einmalig auf der Welt. Seit dem die beiden den ARP Sequencer in ihr Programm aufgenommen hatten, träumte auch ich von einem eigenen ARP Synthesizer und dem dazugehörenden Sequencer. Ersteres konnte ich mir 1978 anschaffen, letzteres ein Jahr später - ich gebe es zu: beides kam nicht aus Bonn. Im Mai 1980 stand dann mein erster Besuch in der Franzstraße (Foto rechts) an und ich fuhr nicht mir leeren Hände zurück nach Frankfurt sondern hatte mir für 1.040,-- DM einen MOOG Prodigy gekauft und (dank Dirks wichtigem Hinweis: "MIt dem ARP Sequencer läuft der nicht. Du brauchst noch einen Spezialstecker. Den gibt's hinten im Pappkarton. Musste aber bezahlen!") für 18,-- DM auch noch einen Spezial-Trigger-Stecker mitgenommen.

Herr Matten gab mir in seinem Geschäft mit dem Neonschriftzug im Schaufenster auch wohlgemeinte und dazu noch völlig zutreffende Tipps zu Musikinstrumententests (ich hatte kurz zuvor einen geschrieben über den Mini Moog und dem Gerät fälschlich einen Zufallsgenerator angedichtet), dazu noch in nur zehn Minuten soviel diskretes Geschwätz, das in mir unschludige Künstlerwelten gleich reihenweise zusammenstürzten (O-Ton Matten: "Walter Carlos? Kenn ich nicht. Ich kenne nur 'ne Transe, die Wendy Carlos heißt" - "Tim Blake. Der kann doch gar nicht spielen. Der hat sich 'nen Moog-Spieler geholt, der die ganze Arbeit für ihn macht." "Klaus Schulze hat ja Geld wie Heu. Ist ja auch klar, wenn der Vater der Boss von der GEMA ist." *). Auch später hatte ich noch Kontakt zu "Dirki", der bisweilen sogar bei mir anrief, wenn er einsam war, und z. B. Tipps für die rechtlich einwandfreie Gestaltung der "Sounds vom Synthesizer"-Seite gab. :-)

Vieles über die SSB Philosophie kann man auf Mattens Webseite "Elektropolis" nachlesen, wobei man im Gästebuch durchaus auf illustre Namen treffen kann. Auf jeden Fall war das SSB zeitlebens unbeschreiblich, der Einfluss von Matten und Wiechers auf die Elektromusikszene (mindestens) in Deutschland riesengroß und der Kontakt zu den Mitarbeitern des Synthesizerstudios unersetzlich.

Ich bin daher froh, zum Jubiläum diese kleine Hommage schreiben zu dürfen.

Rainer Sauer

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* = 2:1 für Dirk Matten; lediglich bei Klaus Schulze und Erich Schulze irrte er...oder vielleicht doch nicht? - Wo war Erich Schulze eigentlich im Herbst 1946. Antworten bitte an diese Adresse.

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